Dienstag, 22. Februar 2011

Englisch, italienisch, deutsch - große Linien der Schneiderei


Die Savile Row in London ist immer noch Adresse vieler Schneider. Gute Arbeit findet sich aber auch anderswo in Europa (Foto: Bernhard Roetzel)

Großbritannien gilt zu Recht als das Heimatland der Herrenschneiderei, denn dort entwickelten sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis an das Ende der 1920er Jahre Grundformen, die bis heute den Fundus der männlichen Garderobe bilden. Auch die hohe Qualität der Stoffe aus Yorkshire und Schottland trug zum guten Ruf der britischen Schneiderkunst bei, die bis in die 1960er Jahre Inbegriff für Eleganz, Solidität und Stil blieb. Dennoch besaß jedes Land der Welt eine eigene Schneidertradition, denn auch Wohlhabende fuhren nicht nach London, um Kleidung zu ordern, sondern suchten lokale Anbieter auf. Die konnten sich zwar die renommierten englische Tuche besorgen, gestalteten die Kleidung dann aber im jeweiligen Land mit Hilfe der dort üblichen Zuschneidesysteme. Allerdings – und dies macht die Einordnung der regionalen Stilrichtungen in Gruppen oder Familien so schwierig – stets ganz nach Geschmack des Kunden. Trotzdem lassen sich große Linien erkennen, die sich jedoch immer stärker verwischen. Das hat zum einen mit der immer größeren Mobilität und Weltläufigkeit der Menschen zu tun und einem damit einhergehenden Verlust regionaler Ausprägungen, zum anderen mit der Bilderflut der modernen Medienwelt, die jeden Modetrend weltweit zugänglich macht. So kann der Kunde in Bielefeld das ordern, was er beim Kurztripp nach Mailand im Schaufenster einer italienischen Schneiders gesehen hat oder in einer Zeitschrift, die ihm auf dem Flughafen in New York in die Hände gefallen ist.

Die englische Linie
Als typisch englisch gelten die hohe Taille, die ausgestellten Rockschöße und die klare, jedoch leicht fallende Schulterlinie. Die Einlagen werden traditionell etwas schwerer gewählt, da viele britische Schneider eine ausgeformte, leicht vorgewölbte Brustform empfehlen. Das Armloch sitzt relativ hoch, schränkt die Bequemlichkeit jedoch nicht ein, der Ärmel liegt dicht am Arm an und verjüngt sich zum Handgelenk. Die Hosen sind im Gesäß voller geschnitten, um auch beim Treppensteigen und im Sitzen nicht einzuengen, die Fußweite ist geringer als in Deutschland bemessen und die Länge sparsamer. Dies sind aber nur grobe Vorgaben, die von Schneider und Kunden häufig komplett ignoriert werden. Insofern lässt sich englische Schneiderarbeit leichter an Details erkennen. Das Knopfloch im Revers fällt deutlich länger aus als auf dem Kontinent und es wird in der Regel ohne Auge gearbeitet. Auch die Taschenpatten werden größer angelegt und bei der Innenverarbeitung der Hose wird in der Regel wenig Aufwand getrieben, das Kniefutter gehört z. B. nicht zur Standardausstattung. Außerdem wird das Beinkleid häufig noch für Hosenträger ausgelegt, also mit einem hoch geschnittenen und an der Seite oder im Rücken verstellbaren Bund.

Die italienische Linie
„Die“ italienische Linie existiert genauso wenig wie es „den“ Italiener gibt. Viel eher ließen sich regionale Schneidertraditionen beschreiben, die jedoch mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Nach wie vor ausgeprägt sind jedoch die Unterschiede zwischen der Schneiderei des Nordens, also z. B. den Ateliers in Mailand oder Bologna, und den Werkstätten von Rom, Neapel oder Palermo. Im Norden ist die Schneiderei sehr „englisch“, das Sakko weist in der Regel zwei Seitenschlitze auf, die Schulter wird klar akzentuiert, die Sakkotaschen werden häufig mit Paspel aber ohne Patte gearbeitet. Die Hosen weisen in der Regel Bundfalten und Umschläge auf, die Fußweite wird größer bemessen als bei den Briten.

Die typisch südliche Linie zeichnet sich durch schmale Taille und Hüfte aus, Seitenschlitze sind eher verpönt, der Brustabbnäher wird bis zum unteren Saum geführt. Das Armloch ist klein, die Crochetnaht liegt extrem hoch und steigt steil an, die Brusttasche wird leicht geschwungen in der so genannten „Bötchenform“ gearbeitet, der Ärmel wird bewusst leicht gewellt eingesetzt. Sehr beliebt ist auch der Ärmel im Hemdenstil, vor allem bei Sommersakkos. In Rom wird, im Gegensatz zu Neapel, häufig eine etwas kantigere und schmalere Schultersilhouette bevorzugt, in Vesuvnähe verlangt Mann dagegen einen etwas weiteren und elegant abfallenden Schnitt. Trotz der stilistischen Unterschiede lassen sich bei Stoffauswahl und Verarbeitung durchaus gesamtitalienische Merkmale entdecken, nämlich die Bevorzugung englischer und schottischer Stoffe, das extrem leichte und weiche Innenleben, die Vorliebe für die halb- oder ganz ungefütterte Verarbeitung bei Anzügen für jede Jahreszeit und die äußerst sorgfältige Handarbeit.

Die deutsche Linie
Die deutsche Schneiderei war seit Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich „modischer“ ausgerichtet als die der Briten oder Italiener, was sich mit dem stärker werdenden Konkurrenzdruck der Konfektion immer weiter ausprägte. Insofern sind die hierzulande gefertigten Kleidungsstücke weniger an einem bestimmten, seit Jahrzehnten kaum veränderten Stil ausgerichtet, als vielmehr am jeweils in der Dekade vorherrschenden Zeitgeschmack. Davon abgesehen lassen sich dennoch gewisse Eigenheiten herausfiltern, durch die sich deutsche Schneiderarbeit von der internationalen Konkurrenz absetzt. Anzugjacke und Sakko werden relativ lang geschnitten, das Armloch eher groß und tief, der Ärmel selbst weiter und geräumig – immer im Vergleich zu Großbritannien und Italien. Ganz generell wird die Schnittaufstellung mathematischer angegangen als anderswo, statt z. B. die Taschenlage bei der Anprobe nach Augenmaß, Gefühl oder Geschmack einzuzeichnen, wird sie lieber errechnet. Der deutsche Schneider ist in dieser Hinsicht mehr Techniker als Künstler.

Montag, 14. Februar 2011

Früher alles besser?


Die fünfziger Jahre gelten vielen als geschmacklose Epoche, die Mode dieser Dekade war jedoch im förmlichen Bereich oftmals sehr ausgefeilt. Dies bewies 2002 die Ausstellung "Nylon & Caprisonne" im Münchener Stadtmuseum, deren Katalog wertvolles Quellenmaterial bietet.


Fans des klassischen Stils sind oftmals Nostalgiker und manchmal sogar Snobs. Denn früher ging es sicherlich oftmals stilvoller zu, dafür konnten sich in fünfziger Jahren viel weniger Leute gute Kleidung leisten. Heute haben die Menschen in Europa mehr Geld als jemals zuvor, gleichwohl ziehen sich immer weniger Menschen stilvoll an. Ich sage das als jemand, der zwar gern in alten Bildbänden blättert, um das Alltagsleben früherer Epochen zu studieren, gleichzeitig aber Realist genug ist, um auch gewisse Nachteile der Vergangenheit zu sehen. So würde der moderne Mensch z. B. die weitgehende Abwesenheit desodorierender Körperpflegemittel als Nachteil empfinden. Dennoch behaupte ich:

1. Weniger Kleidung zu haben, war kein Nachteil
Noch in den frühen Sechzigern des 20. Jahrhunderts besaßen auch relativ gut gestellte Herren viel weniger Anzüge, die obendrein wesentlich länger getragen wurden. Waren sie deshalb unglücklich? Oder gar schlecht angezogen? Wohl kaum.


2. Kleidung war ein relativ rares Gut, deshalb wurde sie auch geschätzt
Was nichts kostet, ist nichts wert. Wer einen relativ hohen Anteil seines Lohns für seine Kleidung ausgeben musste, schätzte sie dafür um so mehr. Hemden wurden ausgebessert, Strümpfe gestopft und Schuhe gepflegt. Empfanden die Menschen diese werterhaltenden Maßnahmen als Last? Vielleicht. Die Beschäftigung mit der Kleidung bei Pflege und Ausbesserung schuf dafür aber ein Empfinden für Material und Qualität.


3. Konventionen waren Konsens
Wer heute zu einem feierlichen Anläss einlädt, wird in der Regel eine bunte Gästeschar empfangen. Das ist wörtlich gemeint, denn der weitgehend einheitliche Auftritt der Herren im dunklen Anzug ist praktisch passé. Noch im ersten Nachkriegsjahrzehnt wäre es auch einem Arbeiter nicht eingefallen, in Freizeithemd zu einer Silberhochzeit zu gehen. Die Mehrheit war sich darüber, was sich kleidungsmäßig gehört. Über Klassengrenzen hinweg.

Samstag, 12. Februar 2011

Deutsche Spitzenschneider: Volkmar Arnulf aus Berlin


Volkmar Arnulf aus Berlin ist Schneidermeister und Hobbyhistoriker in Sachen Maßarbeit (Foto: Bernhard Roetzel).

Wie viele Anzüge mag Volkmar Arnulf schon zugeschnitten haben? Seit 1962 hat der in Bernau geborene Berliner den Meisterbrief in der Tasche und ab diesem Zeitpunkt war er auch selbstständig. Das erste Atelier lag am Kurfürstendamm und dort ist er bis heute heimisch, seit 1983 in bester Lage in der Nachbarschaft von Modeboutiquen, Juwelieren und Edelschuhshops. Von den gut 25 Schneidern, die zu Beginn der Sechziger an Berlins Bummelmeile zu finden waren, ist der damalige Newcomer als einziger übrig geblieben. Vielleicht ein Beweis dafür, dass Qualität sich doch am Ende durchsetzt.

Arnulfs Leben ist die Schneiderei, selbst in seiner Freizeit beschäftigt er sich mit historischen Zuschneidesystemen. Außerdem arbeitet er ehrenamtlich als Obermeister der Berliner Innung, mischt beim Bundesverband mit und kümmert sich um die Ausbildung der Lehrlinge. Nebenbei hat er in den letzten 47 Jahren rund 18 Goldmedaillen bei brancheninternen Wettbewerben gewonnen, die „Goldene Schere“ errungen und den „Wanderpokal“, Oscar und Grammy der Maßanzugmacher. Wie er das alles schafft? „Ich habe dreimal so viel wie andere gearbeitet,“ erklärt er trocken. Tatsächlich ist er in seinem Atelier am Kurfürstendamm 46 unter der Woche jeden Tag von früh bis spät bei der Arbeit, falls er nicht gerade einen Kunden im Büro besucht.

Arnulf und seine Frau wohnen „am Stadtrand“, die dezente Umschreibung für das Haus im Bezirk Wannsee. Seit 1962 sind die beiden verheiratet, gerade mal achtzehn war seine Frau damals, im Jahr darauf kam der Sohn. Die zierliche Dame, die stets perfekt frisiert im maßgeschneiderten Hosenanzug auftritt, ist auch im Geschäft seine Partnerin, sie vereinbart Termine, wickelt den Zahlungsverkehr ab und schirmt ihren Mann am Telefon ab. Arnulfs Tag ist voll mit Terminen, denn er ist Kundenberater und Zuschneider in einer Person. Wenn er mal gerade nicht das Maßband schwingt, greift er in der Werkstatt zu Schneiderkreide oder Schere. Jedes Kleidungsstück wird komplett bei ihm im Haus gefertigt, niemals würde er Heimarbeiter beschäftigen. Die fünf Angestellten beschreibt er als seine verlängerten Arme, sie nähen so, wie der Meister selbst die Nadel führt. „Ich habe immer meine Finger mit drin“ bekennt er schmunzelnd. Das ist wörtlich zu verstehen: „ Wir machen so viel mit der Hand, wie es nur irgend geht. Was mit der Hand genäht wird, ist einfach elastischer.“

Arnulf arbeitet noch genauso so, wie es ihm seine Lehrmeister in den Fünfzigern beigebracht haben. In zwei Betrieben hat er Herren-, Damen- und Uniformschneiderei gelernt. Danach ließ er sich von einem Exil-Franzosen in die Kunst des Modellmachens einweisen: „Ich musste nicht nach Paris zur Ausbildung, er hat mir hier in Berlin beigebracht, wie man Haute Couture macht.“ Als Geselle hat Arnulf noch Uniformen für die Offiziere der Besatzungsmächte genäht, heute geht es um Anzüge, Sakkos, Hosen und Mäntel aus feinsten Tuchqualitäten. Wolle, Kaschmir und Vikunja, Baumwolle, Leinen oder Shantung. Und als Futter immer reine Seide. Ein Grundauswahl an Standards wie Nadel- oder Kreidestreifen, Flanell, Fischgrat und verschiedenen Tweeds liegen im Atelier bereit, hunderte weitere Qualitäten sind aus Musterbündeln abrufbar. Arnulf nimmt einen „Coupon“ Kammgarnflanell aus dem Regal und drapiert ihn sich über die Schulter. Während er genüsslich über den Stoff streicht, erklärt er seine Philosophie: „Selbst wenn er Falten wirft, muss er noch schön aussehen, deshalb mache ich mit den Kunden Bewegungsproben.“ Über deren Namen schweigt Arnulf sich diskret aus, Anekdoten werden anonymisiert. Zum Beispiel die über einen adeligen Kunden, der sich für seine Hochzeit den Cut des Großvaters ändern ließ. Das Erbstück wurde einstmals vom Schneider des letzten deutschen Kaisers genäht, Arnulf passte es an den Enkel an. Viel verdient hat er an dem Auftrag nicht aber dennoch etwas gewonnen. Die Einsicht, dass man für Wilhelm II. auch nicht sorgfältiger genäht hat, als 2009 bei Arnulf.

So sehr den Nadelkünstler die Historie seines Berufs interessiert, blickt er immer in die Zukunft: „Man muss sich anpassen, ohne das Eigentliche zu verlieren: Eleganz und Ausdruck.“ Perfekter Sitz und höchsten Verarbeitungsstandard erwähnt er nicht, beides hält er in seiner Liga für selbstverständlich. Als Luxus sieht er sein Handwerk nicht, vielmehr als Ausdruck von Zivilisation: „Zur Hochkultur gehört die Maßschneiderei.“

Donnerstag, 10. Februar 2011

Semplicità! Ein Interview mit Ciro Paone


Im Jahr 2003 war ich in Neapel bei Kiton zu Gast und konnte bei der Gelegenheit ein Interview mit Ciro Paone führen. Obwohl das Gespräch schon ein paar Jahre in meinem Archiv gelegen hat, sind die Aussagen immer noch interessant und gültig. Spannend sind die Aussagen zum Kiton-Schuh, der sich damals anscheinend noch im Projektstadium befand.

B. R.
Kann man ohne Kiton-Anzug elegant sein?

Ciro Paone
Ihr Anzug hat tausend Fehler, mein Anzug hat tausend Fehler. Es kommt darauf an, wie man seine Kleidung trägt.

B. R.
Was ist für Sie die wichtigste Stilregel?

Ciro Paone
Semplicità!

B. R.
Woher kommt der neapolitanische Stil?

Ciro Paone
Neapel war immer eine sehr vornehme Stadt, wir hatten ja auch einen König und einen reichen Adel. Diese Leute waren sehr kultiviert und reich. Sie konnten ihre Zeit damit verbringen, über ein Möbelstück nachzudenken, das sie sich für ihren Palazzo anfertigen lassen wollten. Oder eben über ihre Kleidung. Deswegen waren diese Leute unglaublich elegant.

B. R.
Nach welchem Prinzip arbeitet Kiton?

Ciro Paone
Ich will immer alles perfekt machen. Mit den Anzügen fing es an. Wissen Sie, früher gab es hier in Neapel noch hunderte von Schneidern. Heute sind es nur noch sehr wenige. Sie können nicht mehr an jeder Ecke was nähen lassen. Bei uns wird noch so gearbeitet, wie ich es aus meiner Kindheit kenne. Meine Familie ist schon sehr lange in der Tuchbranche und als kleiner Junge bin ich mit meinem Vater zu den Schneidern gegangen. Während er über Geschäfte sprach, habe ich im Atelier zugesehen. Deswegen kenne ich mich mit Stoffen sehr gut aus, genauso aber mit der Schneiderei.

B. R.
Aber auch mit Kunst. Sie haben hier eine sehr schöne Sammlung.

Ciro Paone
Danke. Dieses Bild ist beispielsweise von Manlio Giarrizzo.

B. R.
Kiton ist in Deutschland und den USA extrem erfolgreich. Was begründet den guten Ruf der neapolitanischen Schneiderkunst?

Ciro Paone
Im 18. Jahrhundert sind die Engländer und Deutschen auf ihrer Grand Tour zu uns gekommen. Während Sie die Kunst und Kultur Neapels studiert haben, ließen sie sich bei unseren Handwerkern Kleidung nähen. Und in den Zwanzigern und Dreißigern kam der Jetset nach Capri und auch diese Leute haben sich bei unseren Schneidern und Hemdenmachern eingekleidet.

B. R.
Erzählen Sie mir ein bisschen von dem Kiton-Hemd.

Ciro Paone
Es fing im Grunde damit an, dass ich kein Hemd mehr finden konnte, das meine Ansprüche befriedigt.

B. R.
Sie haben das Hemd für sich auf den Markt gebracht?


Ciro Paone
Natürlich hatten wir auch sehr viele Nachfragen von unseren Kunden.

B. R.
Aber in Italien gibt es sehr gute Hemdenmacher. Auch in Paris.

Ciro Paone
Sie kennen nicht die Hemden, die ich früher hier bekommen habe. Genauso gut sollte das Kiton-Hemd werden. Deswegen haben wir sehr lange gearbeitet, bis es auf den Markt gekommen ist. Wir machen das nicht so wie andere, die einfach ihr Label in irgendein Produkt einnähen. Wenn wir was machen, dann richtig. Deswegen haben wir hervorragende Leute geholt, die jetzt bei uns die Hemden ganz so wie früher nähen.

B. R.
Wie sieht Ihr Freizeitlook aus?

Ciro Paone
Ich trage auch privat fast immer Anzug und Krawatte. Außer auf dem Lande, da trage ich dann ein Sakko. Neulich war ich in Ungarn auf einer Hundeschau (Ciro Paone züchtet Schäferhunde, Anm. d. Red.), da war ich der einzige im Anzug.

B. R.
Immer Anzug und Krawatte? Auch im Sommer? Wird es da in Neapel nicht sehr warm?

Ciro Paone
Natürlich. Aber es gibt Stoffe, die sind unglaublich leicht. Ich kann Ihnen zum Beispiel eine Tropical zeigen, der wiegt nur 160 g pro Meter. Oder einen Gabardine von 210 g. Darin wird es Ihnen nie zu warm. Jedenfalls nicht, wenn wir die Stoffe ganz leicht und weich verarbeiten.

B. R.
Bei Kiton denken viele Leute zuerst an Kaschmir.

Ciro Paone
Ja, vor allem die Deutschen. Aber es gibt noch viel mehr. Wir haben hier bei uns im Lager unglaublich exklusive Stoffe liegen, aus Wolle, Baumwolle, Leinen, alles was Sie wollen. Jeder Meter davon wurde exklusiv für uns gewebt. Ich bin nämlich sehr eifersüchtig, ich will diese schönen Stoffe nur für mich haben.

B. R.
Man liest immer, dass sich der Kiton-Anzug an den Körper des Trägers anpasst. Wie geht das?

Ciro Paone
Das liegt daran, dass wir ganz viel von Hand nähen. Der manuelle Stich erzeugt eine flexible Naht. Nach ein paar Tagen passt sich das Kleidungsstück durch die Bewegung und die Körperwärme wirklich an Ihre Figur an.

B. R.
Wird es irgendwann mal einen Kiton-Schuh geben?

Ciro Paone
Wie alt schätzen Sie meine Schuhe? Ich habe sie schon seit 25 Jahren! So müsste auch der Kiton-Schuh sein. Aber es wäre nötig, eine Schuhmanufaktur zu kaufen, im Moment ist das aber nicht geplant.

B. R.
Was hat es mit den küssenden Knöpfen auf sich?

Ciro Paone
Ich war mal mit einem Kunden unten im Atelier, der stellte mir die gleiche Frage. Da sagte ein Schneider: Warum sollen sich die Knöpfe nicht auch ein bisschen lieb haben?

B. R.
Wie steht es um die Eleganz der Deutschen?

Ciro Paone
Es gibt überall sehr elegante Leute, in Italien, Deutschland und auch den USA. Das hat nichts mit der Nationalität zu tun.

B. R.
Haben Sie in Deutschland viele prominente Kunden?

Ciro Paone
Ich verrate keine Namen.

B. R.
Wie sieht die Zukunft von Kiton aus?

Ciro Paone
Gut, denn mein Neffe ist ein absoluter Qualitätsfanatiker, fast noch schlimmer als ich. Neulich hat er ein Sakko zerrissen, weil er einen Fehler entdeckt hat. Insofern mache ich mir um die Zukunft keine Sorgen. Vorausgesetzt, wir finden weiter genügend Schneider. Das ist selbst in Neapel heutzutage ein Problem.

B. R.
Sie haben alles erreicht, was wünschen Sie sich noch?

Ciro Paone
Wenn mir einen 30 Jahre alten Kiton-Anzug bringen würden, dann tausche ich den sofort gegen einen neuen ein. Ich finde es schade, dass ich nur ganz wenige Stücke aus unserer Anfangszeit besitze.

B. R.
Sonst nichts?

Ciro Paone
Doch. Noch viele schöne Hunde.

B. R.
Herr Paone, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt, die Dolmetscherin war Dr. Claudia Piras.

Donnerstag, 3. Februar 2011

Max Dietls Sakko-Tipps

Max Dietl vor Fotos zufriedener Kunden in seinem Münchener Maßsalon (Foto: Bernhard Roetzel).

Max Dietl führt mit seiner Frau Inge in zweiter Generation Deutschlands berühmteste Maßschneiderei. Neben diversen Leinwandgrößen, Managern und Politikern zählt auch Horst Tappert zu den Kunden des Münchener Modetempels – für jede Episode von „Derrick“ wurde dem Schauspieler ein neues Outfit auf den Leib geschneidert. Zugleich gehört Max Dietl zu den Herrenausstattern mit der weltweit höchsten Dichte italienischer Nobelmarken. Anzüge von Brioni, Kiton und Attolini, handgemachte Hemden und Krawatten, dazu Mäntel, Pullover, Pyjamas und Schuhe, also die Komplettausstattung für den Gentleman. Und während der durch Stoffbündel blättert oder handgenähte Sakkos probiert, kann sich seine Begleiterin in der Damenabteilung von Inge Dietl internationale Haute Couture und Designermode zeigen lassen, oder gleich ein exklusives Einzelmodell ordern.

1. Ich weiß, es sieht immer etwas nach Vertreter aus, und manche Freunde machen sich auch lustig darüber. Aber ich ziehe im Auto immer das Sakko aus, jedenfalls vor längeren Fahrten. Durch das Festhalten des Steuers kriegen die Ärmel Falten und auch der Rücken wird zerknautscht. Da habe ich einfach zu viel Respekt vor der Arbeit unserer Schneider, um dem Stoff so eine Tortur anzutun.

2. Wenn ich japanisch essen war und das Fleisch direkt am Tisch gebraten wurde oder ich in der L-Bar (meinem Münchener Zigarrenclub) geraucht habe, hänge ich mein Sakko über Nacht ins Freie. Die Luftfeuchtigkeit gibt der Faser seine Elastizität zurück und der Wind pustet den Geruch heraus. Bei ganz hochgezwirnten Stoffen muss man aber aufpassen, die werden durch die Feuchtigkeit wellig, weil das Garn etwas an Spannung verliert.

3. Ich lasse meine Sakkos so selten wie möglich und so oft wie nötig chemisch reinigen, durch allzu häufiges Reinigen werden sie nämlich nicht besser. Meistens reicht gründliches Ausbürsten völlig. Ich habe zwei verschiedene Bürsten, eine mit harten Naturborsten für unempfindliche Schurwollstoffe und Tweed und eine weiche aus Ziegenhaar für Kaschmirsakkos. Wenn das Teil einfach nur zerknittert ist, können Sie es auch Aufbügeln lassen, fragen Sie mal die Reinigung, ob die das machen. Wenn Sie selbst zum Eisen greifen, dann bitte immer ein feuchtes Baumwolltuch zwischen Bügelsohle und Sakko legen, sonst glänzt der Stoff hinterher. Mein Tipp: Zerschneiden Sie ein altes Hemd (natürlich 100 Prozent Baumwolle), das auch durch neue Kragen und Manschetten nicht mehr zu retten wäre – der Rücken gibt ein perfektes Bügeltuch ab.

4. Das Sakko braucht Ruhephasen, pro Tag im Einsatz mindestens 24 Stunden, besser 48. Und achten Sie auf die Bügel, sie sollten schön breit und wie die Schulter geformt sein. Selbst in guten Hotels hängen oft nur ganz flache Bügel, deswegen schleppe ich immer meine eigenen, massiven Formbügel mit. Meine Frau amüsiert sich darüber, aber die eigenen Bügel haben noch einen anderen Vorteil. Die im Hotel haben oft keinen Haken, denn der ist fest mit der Stange im Schrank verbunden, der Bügel wird nur mit dem Stiel eingeklinkt. Dadurch können Sie die Sachen nur in den Schrank hängen – und nicht ins Bad oder auf den Balkon. Wenn das Sakko nach Rauch oder Essensaromen riecht, möchte ich es aber nicht ungelüftet zur übrigen Garderobe tun. 

5. Einmal hat mir jemand bei einer sommerlichen Weinprobe ein ganzes Glas Rotwein auf mein helles Baumwollsakko gekippt. Meine Frau hat es mir sofort vom Leib gerissen und den roten Fleck mit einer halben Flasche Weißwein großzügig durchnässt. Die anderen Leute haben erst ein bisschen komisch geguckt, als der Rotweinfleck dann aber rausging, waren sie beeindruckt. Statt Weißwein geht auch Champagner. Salz draufstreuen hilft ebenfalls, denn es saugt die Flüssigkeit hervorragend auf. Wichtig dabei: Genug Salz nehmen, ihm ausreichend Zeit zum Aufsaugen geben und es hinterher nur ausschlagen und runterschütteln, nicht mit einem Tuch abreiben. Die Kristalle können empfindliche Stoffe sonst aufrauen.

6. Auf Autoreisen verstaue ich meine Sakkos in Kleidersäcken. Da gehen locker zwei oder drei Sakkos rein, von mehr rate ich aber ab, weil sie sich sonst gegenseitig zerdrücken. Die Kleidersäcke lege ich dann in den Kofferraum oder hänge sie an die Handgriffe im Fond. Auf Flugreisen verwende ich einen riesigen Koffer, der ist fast zu breit für das Gepäckband beim Einchecken. Aber wenn man nicht genug Platz hat, werden die Sakkos gequetscht. Wichtig beim Zusammenlegen: Hohlräume ausstopfen. Wenn kein Seidenpapier zur Hand ist, dann eben mit Hosen, Pullovern oder Unterwäsche.

7. Das Sakko, von dem jeder mindestens ein Exemplar haben sollte, ist der dunkelblaue, einreihige Blazer. Der ist für mich das vielseitigste Sakko überhaupt und gerade auf Geschäftsreisen oft die beste Lösung. Beim Meeting mit dunkelgrauer Wollhose, abends beim Drink an der Bar zum offenen Hemdkragen mit Chinos, Kordhosen oder sogar Jeans. Ich habe blaue Blazer in allen Stoffvarianten, aus Kaschmir in verschiedenen Gewichtsstufen von superleicht bis flauschig schwer, aus hochgezwirnter Kammgarnwolle, griffigem Hopsack und im Sommer aus seidiger Baumwolle oder Leinen.

8. Ein schöne Variante beim Innenleben bieten halb- oder ungefütterte Sakkos sowie ganz unstrukturierte Verarbeitungen. Sie sind in Deutschland kommerziell nicht besonders erfolgreich, ich trage sie aber sehr gern, vor allem im Sommer. Viel kühler ist das Sakko ohne Futter nicht, aber rein psychologisch habe ich an warmen Tagen das Gefühl, dass der ungefütterte Stoff ein bisschen mehr Luft durchlässt. Beim Anprobieren von ungefütterten Teilen müssen Sie die Schulterpartie und die Ärmel immer erst ein  bisschen zurechtziehen, weil kein Futter das Hineinschlüpfen erleichtert. Wenn alles sitzt, trägt sich so etwas aber sensationell, wie ein Strickjacke aus federleichtem Kaschmir.

9. Karierte Sakkos könnte ich nicht jeden Tag tragen, ich habe aber eine ganze Menge davon, die ich regelmäßig anziehe. Dabei bevorzuge ich Kaschmirstoffe mit eher dezenten Dessins, z. B. einem feinen Überkaro über einem Fischgratmuster. Auch Tweed ist sehr schön, dann aber richtig urige Stoffe, die ruhig ein bisschen schwerer ausfallen dürfen. Und im Sommer sind Sportsakkos aus Leinen toll. Die irischen Weber sind in dem Bereich wahre Meister, ihre Leinenqualitäten knittern nicht so extrem und der leichte Glanz erinnert fast an Rohseide. Viele Kunden sind erst skeptisch bei Leinen und dann total begeistert, wenn sie es überziehen.

10. Ich trage natürlich nicht nur Sakkos aus unserem Atelier oder aus den Kollektionen, die wir führen, sondern shoppe gern auch mal bei Kollegen. Beim Anprobieren achte ich dann vor allem auf die Schulterpartie, wenn die nicht gut sitzt, lasse ich das Sakko meistens hängen. Es sei denn, ich habe mich so in das Teil verliebt, dass ich meine Schneider bitte, das Teil auseinander zu nehmen und zu ändern. Aber aas ist ein Riesenaufwand und ich muss mich dann immer fragen lassen, warum sie mir nicht einfach ein neues Teil schneidern dürfen. Auch wichtig: Die Gesamtlänge. Deutlich zu kurze oder zu lange Sakkos sehen fürchterlich aus.

11. Viele Ausstatter führen die Größen nur in Zweierschritten, also 50, 52, 54 und so weiter. Ich bevorzuge Läden, die ihre Sakkos in Einerschritten im Sortiment haben, denn oft bedarf es genau dieser kleinen Zwischenstufen, um die Passform perfekt zu machen. Auch Größen für untersetzte, kleine und große Figuren gehören ins Sortiment, schließlich will jeder etwas von der Stange finden. Maßkleidung sollte man nämlich nicht in erster Linie wegen Figurproblemen ordern, sondern aus Spaß am Individuellen und Handgemachten. Jedenfalls wünschen wir uns das als Maßatelier – obwohl Kunden mit schwierigem Körperbau wahnsinnig dankbar sind, wenn sie nach Jahren endlich mal was richtig gut Sitzendes bekommen.

12. Der Schnitt des Sakkos sollte zur Persönlichkeit passen und die Gesamterscheinung positiv unterstreichen. Schlanke und hagere Männer greifen oft zu Sakkos mit sehr schmalen Schultern, dadurch sehen sie aber häufig geradezu spillerig aus. Eine etwas markantere Schulter im römischen Stil kann hier schmeichelhafter sein.

13. Ich persönlich liebe es, wenn man die Ärmelknöpfe öffnen kann. Ich weiß, dass es für viele Leute Snob-Appeal hat, wenn man ein oder zwei davon aufgeknöpft trägt, doch ich stehe dem ganz neutral gegenüber und überlasse es dem persönlichen Geschmack. Weniger schön ist es, wenn die funktionierenden Ärmelknopflöcher nicht von Hand umsäumt sind. Grobe, ausgefaserte Maschinenknopflöcher empfinde ich einfach als hässlich. Das mag für manch einen abgehoben klingen, aber wenn man so wie ich mit der Maßschneiderei aufgewachsen ist, stört einen so was. Was die Anzahl der Ärmelknöpfe angeht: Ich persönlich finde vier am schönsten, bei Sakkos mit drei Knöpfen oder gar nur zwei oder nur einem Knopf am Ärmel graust es mir dagegen, aber auch das ist reine Geschmackssache.

14. Im Moment sind Zweiknopf-Sakkos wieder sehr im Trend, auf lange Sicht bewährt sich die Dreiknopf-Front aber am besten. Allerdings sollten die Knöpfe nicht zu weit auseinander liegen, sonst schließt das Sakko zu hoch und man sieht zu wenig von Hemd und Krawatte. Wahrscheinlich ist es überflüssig zu sagen, dass man immer nur den mittleren oder die beiden oberen Knöpfe zumacht. Ich erwähne es sicherheitshalber aber doch, denn ab und zu sehe ich Männer, die nur den unteren oder alle drei zuknöpfen. Ich mag auch Dreiknopf-Sakkos, bei denen sich die Kante am obersten Knopf leicht umrollt, das verlängert das Revers optisch, bietet aber die Vielseitigkeit der Dreiknopf-Front.

15. Ich lasse meine Sakkoärmel immer so kurz arbeiten, dass sie viel von der Hemdenmanschette zeigen. Ich finde es z. B. sehr schön, wenn die Manschnettenknöpfe gut zu sehen sind, denn neben Uhr und Trauring sind sie für mich der einzig zulässige Schmuck des Herrn.

16. Natürlich sollte das Sakko genug Taillenweite haben, da es sonst spannt und beengt. Ich lasse es aber so zuschneiden, dass ich es spüre, also schon dicht am Körper. Und wenn ich es zugeknöpft habe, muss auf dem Schließknopf ein ganz kleines bisschen Zug sein. Mein Vater hat das auch so bevorzugt.

17. Außer beim Autofahren ziehe ich das Sakko nie in der Öffentlichkeit aus. Heute ist es ja sehr weit verbreitet, im Büro oder Restaurant nach kurzer Zeit abzulegen. Meiner Meinung nach gehört sich das nicht und ist auch überflüssig. Wenn das Sakko richtig sitzt und der Stoff zur Jahreszeit passt, stört es einen nicht.

18. Für meinen Geschmack sollte das Sakko mit zwei Seitenschlitzen gearbeitet sein. Erstens ist das beim Hinsetzen bequemer und es verzieht sich nichts, wenn man in die Hosentasche greift. Zweitens gefällt mir die Rückenpartie mit Seitenschlitzen einfach besser. Der Mittelschlitz ist weniger vorteilhaft, weil er den Blick auf die Hinterseite freigibt, sobald man in die Hosentasche fasst.

19. Als echtes „Don’t“ empfinde ich doppelreihige Sportsakkos mit Goldknöpfen, die sind dem blauen Blazer vorbehalten. Genauso schlimm sind Doppelreiher, bei denen die Revers wie beim einreihigen Sakko geschnitten sind, zum zweireihigen Sakko, z. B. dem Marine-Blazer, gehört das spitze Revers.

20. Ich lasse meine Sakkos nur mit drei Innentaschen arbeiten. Eine an der Brust für meine Mini-Brieftasche, eine kleine für den Füllfederhalter und links unten, wo früher die Zigaretten reinkamen, eine Tasche für das Mobiltelefon. Rechts habe ich gar keine Taschen. Es gefällt mir nicht, wenn die Brustpartie durch vollgestopfte Taschen ausgebeult wird, das ruiniert vollkommen die Linie des Sakkos. Man sollte die Taschen auch nie so stark beladen, dass sich das Sakko nach einer Seite verzieht.

21. Zum Sakko gehört das langärmelige Hemd, entweder mit Knopf- oder mit Doppelmanschette. Es sieht einfach furchtbar aus, wenn aus dem Sakkoärmel der nackte Arm hervorschaut, z. B. wenn der Kurzarmhemdenträger die Hand zum Gruß ausstreckt. T-Shirts unterm Sakko à la „Miami Vice“ finde ich auch ganz schrecklich. Das war schon in den Achtzigern nicht sehr schön, jetzt ist dieser Look erst recht untragbar.

Aufgezeichnet von Bernhard Roetzel