Englisch, italienisch, deutsch - große Linien der Schneiderei
Die Savile Row in London ist immer noch Adresse vieler Schneider. Gute Arbeit findet sich aber auch anderswo in Europa (Foto: Bernhard Roetzel)
Großbritannien gilt zu Recht als das Heimatland der Herrenschneiderei, denn dort entwickelten sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis an das Ende der 1920er Jahre Grundformen, die bis heute den Fundus der männlichen Garderobe bilden. Auch die hohe Qualität der Stoffe aus Yorkshire und Schottland trug zum guten Ruf der britischen Schneiderkunst bei, die bis in die 1960er Jahre Inbegriff für Eleganz, Solidität und Stil blieb. Dennoch besaß jedes Land der Welt eine eigene Schneidertradition, denn auch Wohlhabende fuhren nicht nach London, um Kleidung zu ordern, sondern suchten lokale Anbieter auf. Die konnten sich zwar die renommierten englische Tuche besorgen, gestalteten die Kleidung dann aber im jeweiligen Land mit Hilfe der dort üblichen Zuschneidesysteme. Allerdings – und dies macht die Einordnung der regionalen Stilrichtungen in Gruppen oder Familien so schwierig – stets ganz nach Geschmack des Kunden. Trotzdem lassen sich große Linien erkennen, die sich jedoch immer stärker verwischen. Das hat zum einen mit der immer größeren Mobilität und Weltläufigkeit der Menschen zu tun und einem damit einhergehenden Verlust regionaler Ausprägungen, zum anderen mit der Bilderflut der modernen Medienwelt, die jeden Modetrend weltweit zugänglich macht. So kann der Kunde in Bielefeld das ordern, was er beim Kurztripp nach Mailand im Schaufenster einer italienischen Schneiders gesehen hat oder in einer Zeitschrift, die ihm auf dem Flughafen in New York in die Hände gefallen ist.
Die englische Linie
Als typisch englisch gelten die hohe Taille, die ausgestellten Rockschöße und die klare, jedoch leicht fallende Schulterlinie. Die Einlagen werden traditionell etwas schwerer gewählt, da viele britische Schneider eine ausgeformte, leicht vorgewölbte Brustform empfehlen. Das Armloch sitzt relativ hoch, schränkt die Bequemlichkeit jedoch nicht ein, der Ärmel liegt dicht am Arm an und verjüngt sich zum Handgelenk. Die Hosen sind im Gesäß voller geschnitten, um auch beim Treppensteigen und im Sitzen nicht einzuengen, die Fußweite ist geringer als in Deutschland bemessen und die Länge sparsamer. Dies sind aber nur grobe Vorgaben, die von Schneider und Kunden häufig komplett ignoriert werden. Insofern lässt sich englische Schneiderarbeit leichter an Details erkennen. Das Knopfloch im Revers fällt deutlich länger aus als auf dem Kontinent und es wird in der Regel ohne Auge gearbeitet. Auch die Taschenpatten werden größer angelegt und bei der Innenverarbeitung der Hose wird in der Regel wenig Aufwand getrieben, das Kniefutter gehört z. B. nicht zur Standardausstattung. Außerdem wird das Beinkleid häufig noch für Hosenträger ausgelegt, also mit einem hoch geschnittenen und an der Seite oder im Rücken verstellbaren Bund.
Die italienische Linie
„Die“ italienische Linie existiert genauso wenig wie es „den“ Italiener gibt. Viel eher ließen sich regionale Schneidertraditionen beschreiben, die jedoch mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Nach wie vor ausgeprägt sind jedoch die Unterschiede zwischen der Schneiderei des Nordens, also z. B. den Ateliers in Mailand oder Bologna, und den Werkstätten von Rom, Neapel oder Palermo. Im Norden ist die Schneiderei sehr „englisch“, das Sakko weist in der Regel zwei Seitenschlitze auf, die Schulter wird klar akzentuiert, die Sakkotaschen werden häufig mit Paspel aber ohne Patte gearbeitet. Die Hosen weisen in der Regel Bundfalten und Umschläge auf, die Fußweite wird größer bemessen als bei den Briten.
Die typisch südliche Linie zeichnet sich durch schmale Taille und Hüfte aus, Seitenschlitze sind eher verpönt, der Brustabbnäher wird bis zum unteren Saum geführt. Das Armloch ist klein, die Crochetnaht liegt extrem hoch und steigt steil an, die Brusttasche wird leicht geschwungen in der so genannten „Bötchenform“ gearbeitet, der Ärmel wird bewusst leicht gewellt eingesetzt. Sehr beliebt ist auch der Ärmel im Hemdenstil, vor allem bei Sommersakkos. In Rom wird, im Gegensatz zu Neapel, häufig eine etwas kantigere und schmalere Schultersilhouette bevorzugt, in Vesuvnähe verlangt Mann dagegen einen etwas weiteren und elegant abfallenden Schnitt. Trotz der stilistischen Unterschiede lassen sich bei Stoffauswahl und Verarbeitung durchaus gesamtitalienische Merkmale entdecken, nämlich die Bevorzugung englischer und schottischer Stoffe, das extrem leichte und weiche Innenleben, die Vorliebe für die halb- oder ganz ungefütterte Verarbeitung bei Anzügen für jede Jahreszeit und die äußerst sorgfältige Handarbeit.
Die deutsche Linie
Die deutsche Schneiderei war seit Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich „modischer“ ausgerichtet als die der Briten oder Italiener, was sich mit dem stärker werdenden Konkurrenzdruck der Konfektion immer weiter ausprägte. Insofern sind die hierzulande gefertigten Kleidungsstücke weniger an einem bestimmten, seit Jahrzehnten kaum veränderten Stil ausgerichtet, als vielmehr am jeweils in der Dekade vorherrschenden Zeitgeschmack. Davon abgesehen lassen sich dennoch gewisse Eigenheiten herausfiltern, durch die sich deutsche Schneiderarbeit von der internationalen Konkurrenz absetzt. Anzugjacke und Sakko werden relativ lang geschnitten, das Armloch eher groß und tief, der Ärmel selbst weiter und geräumig – immer im Vergleich zu Großbritannien und Italien. Ganz generell wird die Schnittaufstellung mathematischer angegangen als anderswo, statt z. B. die Taschenlage bei der Anprobe nach Augenmaß, Gefühl oder Geschmack einzuzeichnen, wird sie lieber errechnet. Der deutsche Schneider ist in dieser Hinsicht mehr Techniker als Künstler.
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