Mittwoch, 30. Juni 2010

Vikunja

Stoff der Götter, Rolls Royce der Edelzwirne, der Gipfel von Feinheit und Weichheit - Wenn von Vikunja die Rede ist, bemühen Modemacher, Tuchhändler und Herrenausstatter blumige Superlative. Der Berliner Schneidermeister Volkmar Arnulf, ein feiner Herr im korrekten Marineblazer, bringt es dagegen in ganz einfachen Worten auf den Punkt. Der Inhaber eines angesehenen Traditionsateliers am Kurfürstendamm weiß seine Worte wohl zu setzen und in der Regel sind seine Statements so sorgfältig formuliert wie die Sentenzen eines Staatsmannes. Wenn es um Vikunja geht, redet er jedoch mit jungenhafter Begeisterung: „Vikunja ist die absolute Spitze, kurz vorm Wahnsinn.“ Dem würden die meisten allein schon wegen der Preise für Accessoires oder Kleidungsstücke aus der Luxusfaser zustimmen, ein Schal kostet ca. 1 000 Euro, ein Mantel bis zu 20 000 Euro. Darüber will Volkmar Arnulf aber gar nicht reden, solche Summen schrecken nur die Kunden ab. Er meint, mit „Wahnsinn“ die objektiven Eigenschaften des Materials, das feiner und leichter ist als Kaschmir oder Seide. Vor allem fasziniert ihn das sinnliche Erlebnis, das ein Kleidungsstück aus diesem Stoff dem Träger bietet: „Vikunja ist mit nichts zu vergleichen.“

Volkmar Arnulf nimmt einen Coupon Vikunja zur Hand, der eben aus dem Lager des Brüsseler Tuchhauses Scabal eingetroffen ist. Beinahe ehrfurchtsvoll entfaltet er das Stoffpaket und breitet es auf dem Zuschneidetisch aus. Während er mit der Handfläche darüber streicht, sucht er nach Worten, die seine Sinneseindrücke beschreiben: „Das Gefühl ist ganz anders als bei allen anderen Stoffen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber es fühlt sich beinahe seifig an.“ Das passt ganz gut, denn die Haut gleitet ohne jeden Widerstand über das Gewebe, anders als bei Seide, die an kleinsten Rauheiten der Hände hängen bleibt. Vikunja ist einfach nur spiegelglatt und dabei weich wie Babyhaar. Volkmar Arnulf drapiert vorsichtig einige Falten in den Coupon und dreht ihn dann ein wenig hin und her. „Sehen Sie, wie das Licht darauf spielt? Wie bei einer Katze in der freien Wildbahn. Ihr Fell wird auch erst dann zum Leben erweckt, wenn sie sich bewegt.“ Der Maßschneider, der für die perfekte Erscheinung diverser bekannter und unbekannter Wohlbetuchter sorgt, legt sich den Stoff probeweise über die Schulter: „Von Vikunja geht eine natürliche Eleganz aus. Deswegen muss ich dafür sorgen, dass der Stoff sich frei bewegen kann und sie erhalten bleibt. Und die wenigen Falten, die dann noch entstehen, müssen signalisieren, womit wir es zu tun haben. Dem Besten vom Besten.“

Volkmar Arnulf ist es nicht unrecht, dass nur ein kleiner Teil seiner Kunden Interesse an Vikunja hat. Er gibt sogar zu, dass er sich eher spröde gibt, wenn Nachfragen danach kommen, auch wegen des Preises. Nur wer wirklich weiß, was er an Vikunja hat, wird damit glücklich werden. „So ein Kleidungsstück ist am Anfang schon etwas empfindlich, ich würde jedenfalls nicht empfehlen, sich damit am ersten Tag in einen Sportwagen zu zwängen.“ Mit der Zeit gibt sich das aber, Vikunjastoffe sind langlebig. Gute Pflege vorausgesetzt, kann ein Mantel 20 bis 25 Jahre halten. In dieser Zeit muss meistens zweimal das Futter erneuert werden. Irgendwann verschwindet dann der sichtbare Strich des Materials, der Träger erreicht den Vikunja-Himmel: „Jetzt wird das Material richtig sympathisch und Sie können alles damit machen. Fliegen, Auto fahren, es zusammenrollen, ins Gepäck legen, rausnehmen und wieder anziehen.“

Um diese Stufe des Glücks zu erreichen, muss man erstmal in den engeren Kreis derjenigen gelangen, die des Vikunjas wirklich würdig sind. Diese Auserwählten wissen z. B., dass sie bei so einem Mantel nicht nur für den Stoff, sondern auch für die Verarbeitung mehr berappen müssen als normal üblich. Beides ist erklärlich. Pro Jahr werden weniger als 5000 kg Vikunjafasern erzeugt, im Vergleich dazu kommen immerhin 10 Mio. kg Rohkaschmir auf den Weltmarkt und 500 Mio. kg Schafwolle. Und auch die Verarbeitung macht dem Schneider bei Vikunja objektiv mehr Arbeit, denn alle Zutaten, von der speziellen Futterseide über die butterweichen Inneneinlagen bis zu dem Stoff für die Taschenbeutel, die immer wieder gewaschen werden, bis sie die richtige Schmiegsamkeit haben, wählt der Nadelkünstler speziell aus und näht dann komplett von Hand. „Der Vikunjastoff muss der Herrscher des Mantels sein. Man darf gar nicht merken, dass überhaupt eine Einlage unter dem Stoff vorhanden ist.“

Etwas anderes als eine VIP-Behandlung wäre dem Stoff, der einst den Inka-Herrschern vorbehalten war, nicht würdig. Kein anderes Tuch wird aus so rarem, so feinem und vor allem so mühsam erlangtem Fasermaterial gewoben. Nur alle zwei Jahre wird das Zwergkamel im Rahmen einer pittoresken Zeremonie geschoren, die von Augenzeugen als eine Mischung aus heidnischem Fruchtbarkeitskultus und Volksfest beschrieben wird. Bei diesem als „großem Chaccu“ bekannten Ritual versammeln sich die Landbewohner in den Vikunjaschutzgebieten Perus und bitten zunächst um den Beistand von Mutter Erde. Dann wird ein mehrere hundert Meter langes Seil um die frei herumlaufenden Vikunjas ausgelegt. Anschließend reihen sich die Menschen entlang dieses Seils auf, nehmen es in die Hand schließen einen großen Belagerungsring um die Herde. Der wird dann Schritt für Schritt enger gezogen, bis schließlich an die 2000 Tiere hinter Gattern versammelt sind. Bevor die Schur beginnt, werden zwei Vikunjas symbolisch miteinander vermählt. Anschließend gehen die Scherer flink zu Werke und entlassen die mit gestutztem Haarkleid noch zierlicher wirkenden Bambis der Kamelwelt zurück in die Freiheit.

Das Vikunja wird in Peru bis heute nicht in Farmen gehalten, dies verdankt es der hohen Achtung, die ihm schon zu Zeiten der Inkas entgegengebracht wurde. Es zu jagen, war verboten, seine Wolle zu tragen, gebührte allein den Vornehmsten. Eine Legende besagte, das Fell der Vikunjas sei ein goldener Mantel, den eine Prinzessin von einem hässlichen König als Preis für ihre Hand erhielt. Als die Spanier 1533 die Macht übernahmen, begann ungeachtet dessen die große Hatz auf die Minikamele, denn die „Seide der neuen Welt“ war in Europa hoch begehrt. Bis in die sechziger Jahre schrumpfte die Population von über einer Million Tieren im 16. Jahrhundert auf gerade mal 5000 Exemplare, was die peruanische Regierung 1966 zu einem Handelsverbot zwang. In den Siebzigern wurde dieser Bann auf die ganze Welt ausgedehnt, als das Vikunja nach den Regelungen des Washingtoner Artenschutzabkommens als bedrohte Tierart eingestuft wurde. Die italienische Luxusweberei Loro Piana konnte in den 1990ern ein exklusives Exportmonopol mit Peru aushandeln, das zwar rechtlich keinen Bestand hatte, immerhin aber die legale Ausfuhr kontrolliert gewonnener Vikunjafasern erlaubte und sie damit endlich wieder für Connaisseure verfügbar machte.

Was man nicht haben darf, wird umso heißer begehrt. In den USA wurde die Einfuhr später als in Europa wieder legal, deshalb konnten amerikanische Gentlemen die verbotene Frucht in Paris, London oder Rom nur sehnsuchtsvoll betrachten. Ihre Begierde nach dem ultimativen Kick in Sachen Stoff stillten sie in Secondhandläden, in denen man mit etwas Glück Vikunjamäntel aus den 1950ern finden konnte. Spektakuläre Funde sind auch heute noch möglich. Einem US-Journalisten gelang vor ein paar Jahren ein besonderes Schnäppchen bei Ebay, als er für 5000 US-Dollar ein gut sechseinhalb Meter langes Stück Vikunja aus dem Jahre 1949 ersteigern konnte, was damals ein Fünftel des Neupreises einer solchen Ware repräsentierte. Es handelte sich um ein so genanntes „coating“, also eine Mantelqualität. Aufgrund der geringen Faserlänge der Vikunjawolle konnten feinere Garne und damit leichtere Stoffe bisher nicht erzeugt werden. Eine neue Dimension des Vikunja-Genusses eröffnet deshalb das belgische Tuchhaus Scabal, als es in diesem Jahr erstmals Anzugstoffe aus Vikunja vorstellte. Der „Wahnsinn“, wie Volkmar Arnulf sagen würde, geht also weiter.

Mittwoch, 23. Juni 2010

Wo sind die Väter?

Wenn Leser meiner Artikel und Kolumnen sich mit Stilfragen an mich wenden, sind es in der Regel jüngere Männer. Was trage ich beim Vorstellungsgespräch? Bei welchen Anlässen sind Krawatten Pflicht? Welche Schuhe gehören zum Anzug in Anthrazit?

Ich beantworte diese Anfragen immer sehr gern, dennoch frage ich mich, weshalb sie gestellt werden. Finden sich keine Väter mehr, die ihren Söhnen diese Grundlagen beibringen? Wo sind die Eltern, die ihrem Nachwuchs vorleben, wann welche Kleidung angemessen ist? Müssen sich angehende Hochschulabsolventen wirklich an einen Journalisten wenden, um zu erfahren, dass ein dunkler Anzug und schwarze Schnürschuhe zur Basisausstattung des gebildeten Menschen gehören?

Ich bin weit davon entfernt, mir Illusionen über das allgemeine Bekleidungsniveau vergangener Zeiten zu machen. Es gab immer gut angezogene Menschen und schlecht angezogene Menschen, Leute mit Geschmack und Leute ohne Geschmack, Kenner und Banausen.

Dennoch drängt sich beim Betrachten alter Fotoalben der Eindruck auf, dass die Menschen noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts klassenübergreifend sorgfältiger gekleidet waren. Jedenfalls fällt es auf diesen Aufnahmen bei Menschen im Sonntags- oder Feststaat manchmal schwer, Schichtenzugehörigkeiten auf den ersten Blick auszumachen. Ein Buchhalter konnte in seinem Anzug durchaus neben dem Fabrikdirektor bestehen, der Handwerksmeister neben dem Gutsbesitzer.

Heutzutage, da gesellschaftliche Unterschiede nicht mehr zu bestehen scheinen, lassen sich die Menschen anhand von Kleidung und Frisur dagegen viel müheloser nach Kaste differenzieren. Die so genannte Casualisierung, also die „Verfreizeitung“ des Lebens- und Bekleidungsstils unterstreicht Unterschiede, Förmlichkeit verwischt sie.