Montag, 10. Juni 2013

Vor-Urteile

Rückansichten in Neapel: Der Autor und Giuseppe Attolini auf dem Weg zum Mittagessen. Beide tragen Anzüge ohne Schlitze (Foto: Erill Fritz)

Stil hat viel mit Vorurteilen zu tun. Denn die meisten urteilen nicht nach eigenen Maßstäben, sie übernehmen Urteile von anderen. Als stilvoll gilt dann das, was andere einem als stilvoll benennen. Das ist nicht schlimm, denn in vielen Bereichen sind wir auf diese Art von Vor-Urteilen angewiesen. Schließlich können wir uns nicht von allem eine eigene Meinung bilden und eigene Urteile fällen. Mangels Zeit, Kenntnis oder persönlicher Bekanntschaft. Dennoch kann es nicht schaden, manche Urteile hin und wieder einmal zu überprüfen. Hier ein vier Beispiele:

1. Anzüge müssen Mittelschlitz oder Seitenschlitze haben
In den Achtzigern war der Standardanzug im Kaufhaus zweireihig, er hatte keine Schlitze, weite Hosen mit Bundfalten. Da die Achtziger als geschmacklos gelten, galten Anzüge ohne Schlitz als stillos. Umso überraschter sind viele Deutsche, wenn sie die Anzüge eleganter Neapolitaner sehen: Keine Schlitze. Die waren übrigens bis in die 1960er auch bei englischen Anzügen eher unüblich. Vielleicht, weil man bis dahin nicht so viel im Auto saß.

2. Kurzarmhemden sind stillos
Das Kurzarmhemd gilt als Uniformteil des Bürospießers. Als Teil der Businessgarderobe ist es auch abzulehnen. In der Freizeit sieht es anders aus. Ein nicht zu weit geschnittenes Kurzarmhemd, locker über die Hose getragen, ist genauso akzeptabel wie ein kurzärmeliges Polohemd. Man denke nur an Prinz Charles, der im Sommer regelmäßig in kurzärmeligen Hemden eine gute Figur macht.

3. Frontfixierung ist schlecht
Ein Sakko mit loser, also vernähter Einlage, ist immer die beste Wahl. Dennoch ist vieles, was über die Frontfixierung geschrieben wird, einfach nicht mehr wahr. Auch in niedrigeren Preislagen ist es heute möglich, relativ leicht verarbeitete Anzugjacken zu finden - mit Frontfixierung. Natürlich gibt es immer noch die Konfektion, bei der die Einlage wie ein Stück Fotokarton unter dem Oberstoff spürbar ist. Die Regel ist das aber nicht mehr.

4. Maßanzüge halten ewig
Dieses Vorurteil stammt aus den Zeiten, als alle Anzugstoffe noch sehr schwer waren. Damals hielten alle Anzüge sehr viel länger. Umgekehrt ist es so, dass ein Maßanzug aus sehr leichtem Stoff einem viel stärkeren Verschleiß unterliegt. Wer mit Kleidung sorgsam umgeht, hat länger etwas von ihr. Unabhängig davon, ob sie einzeln angefertigt wurde oder von der Stange stammt.


3 Kommentare:

Blogger Mike meinte...

Punkt 2 ist zu kurz gegriffen.

Er sollte lauten:

"Kurzarmhemden unter dem Sakko sind stillos."

Oder auch

"Kurzarmhemden mit Krawatte sind stillos."

10. Juni 2013 um 09:31  
Anonymous Anonym meinte...

Punkt 2 gefällt mir gar nicht. Hemden sind m. E. immer lang und Polohemden immer kurz. Kurze Hemden und lange Poloshirts sind ganz schrecklich.

Die einzige Außnahme sehe ich bei Uniformen, wo der funktionale Aspekt dazukommt. Und bei Hawaihemden.

Aber die sollte man sowieso nur kaufen, wenn man Jürgen von der Lippe heißt - und das dürfte auf die wenigsten von uns zutreffen.

Haben Sie einen Link zu Prinz Charles mit kurzem Hemd? Habe eben mal Google-Bildersuche bemüht und nur zwei Bilder gefunden: auf dem einen (80er Jahre) hat er tatsächlich kurze Ärmel, auf dem anderen (auch schon etwas älter) hat er die Ärmel lediglich hochgekrempelt.

Ein wirklich fundiertes Argument habe ich jetzt zwar nicht, aber wenn Sie mir Charles kommen, möchte ich (die zugegebenermaßen fiktive Person) James Bond ins Feld führen.

In allen 23 Filmen hat sich keiner getraut, ihn in ein Hemd ohne Ärmel zu stecken ;)

// DONATUS

11. Juni 2013 um 01:40  
Blogger The Viceroy meinte...

Lieber Herr Roetzel,

Sie haben, wie so oft, nicht nur Recht sondern legen auch mit diesen Beispielen den Finger auf eine schon lange in den einschlägigen Internetfora schwelende Wunde: Das apodiktische Nachbeten scheinbar unabänderlicher „iGent“-Regeln, die zumeist in erster Linie nicht dem tatsächlich gutem Geschmack oder rationaler Beschäftigung mit der Materie entstammen sondern dem Bedürfnis, sich von dem gemeinsamen Feindbild des „stillosen Durchschnittsbürgers“ abzuheben.

Zu #1: Ich denke, das Problem liegt darin, daß bei Jacken von der Stange die richtigen Proportionen ohne Schlitz deutlich unwahrscheinlicher zu treffen sind als bei Jacken mit Schlitz – der Schlitz, oder die beiden Schlitze, bieten eben eine Art Knautschzone für den ja oft relative schwierigen Gesäßbereich. In der Maßschneiderei kann recht problemlos der Tatsache Rechnung getragen werden, daß der Kunde nun vom Körperbau eher einem Brauereipferd als einer Gazelle ähnelt.

Zu #2: Hier bin ich, zugegeben, am ehesten „auf Linie“ mit dem vorherrschenden Urteil. Wahrscheinlich ist einfach der relative Anteil wirklich gut geschnittener und „stilvoll“ aussehender Kurzarmhemden so gering, daß man fast unvermeidlich zum Generalurteil „sieht furchtbar aus“ verführt wird. Ich selbst habe in meinem einigermaßen umfangreichen Hemdenfundus nur drei Kurzarmhemden, alle drei aus ansonsten recht angesehener britischer Provenienz – zwei in einfach weißem Leinen, eins in ziemlich heftigem großformatigem, rot/weißem Prince of Wales-Karo. Allesamt trage ich diese aber nur „poolside“ im Urlaub, mit Bermudas oder zumindest zu langen Leinenhosen.

Zu #3: D’accord. Ich besitze zwei „fused“ Anzüge von Wells of Mayfair (heute eine „Marke“ von Davies & Son, glaube ich), die ich zwar aus anderen Gründen nicht besonders häufig trage, deren Frontpartie aber zumindest meinem Urteil nach mit den meisten „non-fused“ Jacken in meinem Kleiderschrank mithalten kann.

Zu #4: Ein fast schon trivialer Punkt: Die Haltbarkeit ist in erster Linie von der Stoffqualität abhängig. Auch die als zweites anzuführende Verarbeitungsqualität ist sicher nicht eindeutig der Stangenware oder dem Maßanzug zuzuordnen – es gibt sowohl hervorragend handgearbeitete Stangenware (wobei wiederum Handarbeit nicht notwendig robuster sein muß als Maschinengennähtes, in so manchem Fall könnte man sicher für das Gegenteil argumentieren) als auch übel zusammengehauenes „Bespoke“.

Herzliche Grüße und „Keep on the good work!“,

dE

11. Juni 2013 um 07:28  

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