Wo sind die Väter?
Wenn Leser meiner Artikel und Kolumnen sich mit Stilfragen an mich wenden, sind es in der Regel jüngere Männer. Was trage ich beim Vorstellungsgespräch? Bei welchen Anlässen sind Krawatten Pflicht? Welche Schuhe gehören zum Anzug in Anthrazit?
Ich beantworte diese Anfragen immer sehr gern, dennoch frage ich mich, weshalb sie gestellt werden. Finden sich keine Väter mehr, die ihren Söhnen diese Grundlagen beibringen? Wo sind die Eltern, die ihrem Nachwuchs vorleben, wann welche Kleidung angemessen ist? Müssen sich angehende Hochschulabsolventen wirklich an einen Journalisten wenden, um zu erfahren, dass ein dunkler Anzug und schwarze Schnürschuhe zur Basisausstattung des gebildeten Menschen gehören?
Ich bin weit davon entfernt, mir Illusionen über das allgemeine Bekleidungsniveau vergangener Zeiten zu machen. Es gab immer gut angezogene Menschen und schlecht angezogene Menschen, Leute mit Geschmack und Leute ohne Geschmack, Kenner und Banausen.
Dennoch drängt sich beim Betrachten alter Fotoalben der Eindruck auf, dass die Menschen noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts klassenübergreifend sorgfältiger gekleidet waren. Jedenfalls fällt es auf diesen Aufnahmen bei Menschen im Sonntags- oder Feststaat manchmal schwer, Schichtenzugehörigkeiten auf den ersten Blick auszumachen. Ein Buchhalter konnte in seinem Anzug durchaus neben dem Fabrikdirektor bestehen, der Handwerksmeister neben dem Gutsbesitzer.
Heutzutage, da gesellschaftliche Unterschiede nicht mehr zu bestehen scheinen, lassen sich die Menschen anhand von Kleidung und Frisur dagegen viel müheloser nach Kaste differenzieren. Die so genannte Casualisierung, also die „Verfreizeitung“ des Lebens- und Bekleidungsstils unterstreicht Unterschiede, Förmlichkeit verwischt sie.
4 Kommentare:
Das ist eine gute Frage! Ich selber bin definitiv den jungen Lesern zuzuordnen und muss mich leider selbst informieren, da mein Vater - obwohl erfolgreicher Geschäftsmann - bedauerlicherweise keinerlei Interesse oder Gespür für Kleidung hat.
Wieso auch immer.
Schöner und treffender Artikel.
Den Begriff der „Verfreizeitung“ greife ich gerne auf: Wir sehen doch heute bspw. in Büros des öffentlichen Dienstes und der freien Wirtschaft so genannte Herren, deren Kleidung eher signalisiert, dass sie hier einem entspannten Freizeitvergnügen nachgehen. Dazu kommen noch die „Infantilisierung der Herrenmode“ und die sog. „Entbürgerlichung“ der Gesellschaft.
Wer nun selbst ohne Bürgerliche Regeln, Stilgefühl und Maßhalten in Formen und Farbe aufgewachsen ist hat es sicher sehr schwer dem eigenen Nachwuchs Stil und Form zu vermitteln.
In der realexistierenden Bekleidung von heute können wir jedoch dezidiert erkennen, ob sich bei dem Träger um einen Herren handelt oder lediglich um einen erwachsenen Menschen männlichen Geschlechts.
Ihre Beobachtung kann ich nachvollziehen und sie trifft auch auf mich zu. Ich denke, dass es neben den genannten zwei weitere Gründe gibt.
Zum einen wächst aufgrund der erhöhten Scheidungsrate ein signifikanter Anteil der jungen Männer heute ohne intensiven Vaterkontakt auf. Wie sollte da eine Sozialisierung bzgl. der bürgerlichen Bekleidungstradition erfolgen, wenn bei den wenigen Kontakten zwischen Vater und Sohn dann drängendere Themen im Vordergrund stehen – wenn ein Kontakt überhaupt noch existiert.
Zu zweiten sind die Eltern von Erwachsenen zwischen etwa 25 und 40 nicht selten Anhänger der 68er-Bewegung oder ihrer Nachfolger. Sie geben dann aus grundsätzlichen Erwägungen die Grundzüge der bürgerlichen Bekleidungstradition nicht weiter, wenn sie sie überhaupt kennen (wollen).
Unsinn!
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