Donnerstag, 6. August 2009

Ungleich lässiger

Wenn Leser meiner Artikel und Kolumnen sich mit Stilfragen an mich wenden, sind es in der Regel jüngere Männer. Was trage ich beim Vorstellungsgespräch? Bei welchen Anlässen sind Krawatten Pflicht? Welche Schuhe gehören zum Anzug in Anthrazit?

Ich beantworte diese Anfragen immer gern, dennoch frage ich mich, weshalb sie gestellt werden. Finden sich keine Väter mehr, die ihren Söhnen diese Grundlagen beibringen? Wo sind die Eltern, die ihrem Nachwuchs vorleben, wann welche Kleidung angemessen ist? Müssen sich angehende Hochschulabsolventen wirklich an einen Journalisten wenden, um zu erfahren, dass ein dunkler Anzug und schwarze Schnürschuhe zur Basisausstattung des gebildeten Menschen gehören?

Ich bin weit davon entfernt, mir Illusionen über das allgemeine Bekleidungsniveau vergangener Zeiten zu machen. Es gab immer gut angezogene Menschen und schlecht angezogene Menschen, Leute mit Geschmack und Leute ohne Geschmack, Kenner und Banausen. Dennoch drängt sich beim Betrachten alter Fotoalben der Eindruck auf, dass die Menschen noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts klassenübergreifend sorgfältiger gekleidet waren. Jedenfalls fällt es auf diesen Aufnahmen bei Menschen im Sonntags- oder Feststaat manchmal schwer, Schichtenzugehörigkeiten auf den ersten Blick auszumachen. Ein Buchhalter konnte in seinem Anzug durchaus neben dem Fabrikdirektor bestehen, der Handwerksmeister neben dem Gutsbesitzer.

Heutzutage, da gesellschaftliche Unterschiede nicht mehr zu bestehen scheinen, lassen sich die Menschen anhand von Kleidung und Frisur dagegen viel müheloser nach Kaste differenzieren. Die so genannte Casualisierung, also die „Verfreizeitung“ des Lebens- und Bekleidungsstils unterstreicht Unterschiede, Förmlichkeit verwischt sie.

1 Kommentare:

Anonymous Anonym meinte...

Das Problem ist vor allem, dass man als jemand, der sich Gedanken über seine Kleidung macht, für bonzig/reich/aus gutem Hause/homosex./dandyhaft gehalten wird. All das, was auf mich nicht zutrifft (das mit "reich" ändert sich hoffentlich in absehbarer Zeit). Und das zeigt nur eines: Es ist heute nicht "normal", gut im Sinne von stilvoll gekleidet zu sein. Eine Schande!
_________
nm

20. Dezember 2010 um 10:47  

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